So erlebten Gökay Akbulut und Memet Kiliç den Anschlag




Heidelberg/Mannheim. Unsere Abiturklasse war am 11. September 2001 gerade auf Klassenfahrt in der Türkei. Die Bilder der Anschläge haben wir im türkischen Fernsehen gesehen. Wir waren schockiert. Alle. Zumal ja einer der Attentäter aus Hamburg-Harburg kam, hier gelebt hatte. Wir hatten auch Freunde, die dort an der TH studierten. Alle Eltern wollten uns zunächst so schnell wie möglich zurückholen nach Deutschland, weil alle Angst hatten, was als nächstes passiert. Aber die Lage hat sich dann sehr schnell beruhigt.

Gesellschaftlich war das anders. Meine Familie ist Anfang der 90er Jahre nach Deutschland gekommen. Dieses Jahrzehnt war definitiv entspannter für Migrantinnen. Einerseits in Bezug auf Arbeit und Ausbildungschancen. Aber auch der Alltagsrassismus war nicht so verbreitet. Das ist es zumindest, was meine Eltern und die Älteren aus der Community berichten. Sicher, es gab auch Rassismus. Aber die Leute waren viel freundlicher und es kam kaum vor, dass man in der Straßenbahn oder beim Einkaufen beleidigt oder beschimpft wurde.

 Ein Foto aus der Abizeitung: Gökay Akbulut 2001… Foto: privat

„Man muss sich rechtfertigen“

Der 11. September war da ein Meilenstein in Bezug auf Rassismus und gerade den antimuslimischen Rassismus, der sich danach sehr stark in Europa und auch in Deutschland etabliert hat. Er hat zum Aufstieg der rechtspopulistischen Partien geführt. Zunächst in Frankreich von Le Pen, später in Deutschland von der AfD.

Auch außenpolitisch und militärisch ging es danach gegen den Islam mit dem sogenannten „Krieg gegen den Terror“ der USA und der Nato – etwa gegen die Taliban, später gegen den IS und andere. Dabei geht es dabei eigentlich gar nicht um Religion, sondern um Macht. Diese dschihadistischen Gruppierungen missbrauchen den Islam, instrumentalisieren ihn für ihre politischen Zwecke.

„Freundschaften lösten sich auf“

Ich habe einen alevitischen Hintergrund, bin aber eigentlich kein religiöser Mensch – sondern war schon früh religionskritisch. Ich habe aber merken müssen, wie das für antimuslimischen Rassismus eigentlich keine Rolle spielt. Die Mehrheitsgesellschaft unterscheidet ja auch nicht, ob man kurdisch, sunnitisch, alevitisch oder persisch ist. Es werden alle über einen Kamm geschert. Man muss sich pauschal für den Islam rechtfertigen und auch von jedem Anschlag distanzieren – obwohl man damit doch gar nichts zu tun hat.

 … und aktuell als Bundestagsabgeordnete. F.: dpa

Ich habe zum Beispiel einen kurdischen Hintergrund – und Kurden setzen sich ja bis heute, beispielsweise in Syrien, sehr stark gegen islamistische Terrorgruppen wie den IS ein. Kurden sind zwar überwiegend Muslime, davon mehr Sunniten als Aleviten, aber sie haben trotzdem große Opfer im Kampf gegen den islamistischen Terror des IS gebracht. Da wird aber kaum differenziert.

Aber es gibt auch eine positive Entwicklung: Bis Anfang der 2000er Jahre haben wir von konservativen Parteien immer wieder gesagt bekommen: „Deutschland ist kein Einwanderungsland.“ Da wurde sehr viel verschlafen. Inzwischen gibt es auf politischer Ebene sehr viel mehr Dialog mit den Islamverbänden.

Gökay Akbulut (38), Mannheimer Bundestagsabgeordnete für die Linke, war vor 20 Jahren Schülerin in Hamburg.


Am 11. September 2001 landete ich auf dem Frankfurter Flughafen. Da war noch alles normal. Ich kam gerade von einer UN-Weltkonferenz gegen Rassismus und Diskriminierung in Südafrika, in Durban. Dort war ich als Vorsitzender des „Bundeszuwanderungs- und Integrationsrats“ (damals Bundesausländerbeirat) gewesen. Zuhause kam dann ein Anruf von einem Bekannten, ich solle den Fernseher einschalten. Ich sah die Bilder des schrecklichen Terroranschlags auf die Zwillingstürme. Danach wurde es schwierig für Migrantinnen und Migranten, insbesondere für Muslime. Sie wurden unter Generalverdacht gestellt.

 Jurist und Grünen-Politiker: Memet Kiliç im Jahr 2001… Foto: dpa

Otto Schily (SPD), der damalige Bundesinnenminister, und Günther Beckstein (CSU), der bayerische Innenminister, haben darum gewetteifert, wer die schärfsten Gesetze erlässt. Ich habe deshalb eine Zeit lang täglich Otto Schily angegriffen. Er wollte sogar bei der Visa-Vergabe in bestimmten Ländern nicht nur Fingerabdrücke, sondern auch Stimmproben speichern. Da war einiges übertrieben. Auch das Bundesverfassungsgericht stellte ja später fest, dass beispielsweise die Übermittlung von Daten zwischen Polizei und Geheimdiensten teilweise verfassungswidrig war. Auch andere Gesetze wurden verschärft.

Wenn ich Otto Schily heute treffen würde, wäre ich nicht ganz so streng. Ich gebe zu: Er hatte nicht in allen Punkten unrecht. Aber angesichts der Terrorlage, die sich ja auch später zeigte, muss ich schon sagen: Gewisse Maßnahmen sind wichtig und richtig.

Wir müssen vorsichtig sein, dürfen aber die Menschen nicht unter Generalverdacht stellen. Migranten wurden zu gläsernen Menschen gemacht. Und die Grenzen zwischen Geheimdiensttätigkeit und Polizei verschwammen. Wenn man das zulässt, sind wir selbst keine demokratische Gesellschaft mehr. Wir müssen eine gute Balance finden zwischen Freiheit und Sicherheit.

Damals sind ja auch Moscheen ins Visier geraten. Ich habe Erklärungen abgegeben, dass ich für die türkischen Ditib-Moscheen meine Hand ins Feuer legen kann. Das seien liberale Moscheen. Damals war das auch so. Aber unter der Leitung von Erdogan sind sie nicht nur zum Wahlbüro seiner Partei, sondern teilweise sogar zu Spionagezentren geworden.

 … und heute, zwei Jahrzehnte später. Foto: dpa

Ich selbst habe mich damals nicht über den Islam definiert. Ich bin ein Alevit, der dafür auch von Radikalislamisten verachtet wird. Nach dem 11. September habe ich aber gesagt: Ich bin auch ein Muslim. Aus purer Solidarität, weil es mir so zuwider war, wie man damals Muslime attackiert hat.

Auch Anfeindungen gab es. Einmal wurde ein Autospiegel kaputt gemacht, einmal ein Reifen. Ich habe auf meinem Anrufbeantworter rassistische Drohanrufe gespeichert, die ich dann an die Polizei weitergeleitet habe. Drohbriefe gab es in Massen.

Mein Eindruck: Die Rassisten und Faschisten dachten, dass sie mehr Rückhalt haben in der Gesellschaft. Nach den Mordanschlägen auf Asylbewerberheime und Migranten von Solingen, Mölln, Rostock-Hoyerswerda hatte es große Proteste, Lichterketten gegeben. Die Bevölkerung hatte sich solidarisiert. Nach dem 11. September habe ich das nicht so erlebt.

Uneingeschränkte Solidarität hat Bundeskanzler Gerhard Schröder gegenüber den USA erklärt. Ich habe damals übrigens auch den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr auf einem Grünen-Parteitag verteidigt. Inzwischen wissen wir aber, dass da nichts Nachhaltiges geschaffen wurde.

Wenn man die Quellen des islamistischen Terrorismus austrocknen will, geht das nur von innen. Diejenigen, die sich gegen dieses archaische Islamverständnis stellen, leben derzeit in Lebensgefahr. Die müssten wir unterstützen. Militärische Eingriffe haben keinen Wert über den Tag hinaus.

Memet Kiliç (54), ehemaliger Bundestagsabgeordneter für die Grünen, arbeitete vor 20 Jahren als Anwalt in Heidelberg.

Protokolliert von Sören S. Sgries


Original aufrufen: https://www.rnz.de/panorama/magazin_artikel,-nach-911-so-erlebten-goekay-akbulut-und-memet-kili%C3%A7-den-anschlag-_arid,735721.html

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