Femizide in Deutschland untersuchen, benennen und verhindern


Antrag (pdf)

der Abgeordneten Cornelia Möhring, Doris Achelwilm, Gökay Akbulut, Simone Barrientos, Dr. Birke Bull-Bischoff, Anke Domscheit-Berg, Brigitte Freihold, Sylvia Gabelmann, Nicole Gohlke, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, Katja Kipping, Caren Lay, Niema Movassat, Norbert Müller (Potsdam), Zaklin Nastic, Sören Pellmann, Martina Renner, Eva-Maria Schreiber, Dr. Petra Sitte, Helin Evrim Sommer, Friedrich Straetmanns, Dr. Kirsten Tackmann, Kathrin Vogler, Katrin Werner, Sabine Zimmermann (Zwickau) und der Fraktion DIE LINKE.

Femizide in Deutschland untersuchen, benennen und verhindern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest: Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind. Im letzten Jahr sind 267 Frauen in Deutschland getötet worden, weitere 542 haben die Tötungsversuche überlebt. Im Jahr 2018 waren 367 Frauen Opfer einer gewaltsamen Tötung, im Jahr 2017 sogar 380. Dies sind die offiziellen Zahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) der Kategorien Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) und Körperverletzung mit Todesfolge (§§ 227, 223 StGB). Es ist anzunehmen, dass diese Zahlen nicht das gesamte Ausmaß von tödlicher Gewalt gegen Frauen umfassen. In den genannten Zahlen fehlen zum Beispiel die Kategorien Brandstiftung mit Todesfolge und fahrlässige Tötung, obwohl sich darunter auch Morde oder Mordversuche befinden können, die aber nicht als solche erkannt und ausgewiesen wurden. Gleiches gilt für Vorfälle, bei denen die Todesursache ungeklärt ist oder falsche Annahmen vorliegen.

Um einen Femizid handelt es sich, wenn Frauen oder Mädchen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit und vor dem Hintergrund eines hierarchischen Geschlechterverhältnisses und dem daraus resultierenden patriarchalen Dominanzstreben getötet werden. Unter Femizid fällt auch die Tötung von Menschen, die sich selbst nicht als Frauen identifizieren, aber von den Tätern als Frau gesehen werden. Um einen Femizid handelt es sich beispielsweise, wenn Frauen oder als Frau gelesene Personen vergewaltigt und anschließend umgebracht werden, wenn Frauen von ihrem Partner getötet werden, weil sie ihn verlassen haben, wenn Frauen getötet werden, weil sie öffentlich auftreten und ihre Meinung äußern, wenn Familienmitglieder ihre Töchter oder Schwestern umbringen, weil sie ihren eigenen Weg gehen wollten, aber auch, wenn bei einem Attentat speziell Frauen getötet werden. Oft steht die Tötung der Frau am Ende einer langen gewaltvollen Geschichte. All diese Tötungen passieren im Kontext einer allgemeinen Abwertung und Unterdrückung von Frauen. Es ist ein gewaltvolles System, das Ungleichbehandlung und hierarchische Geschlechterverhältnisse aufrechterhält.

In den Medien und in der Öffentlichkeit werden Tötungsdelikte an Frauen fast nie als Femizide, sondern meist als „Eifersuchtsdramen“, „Beziehungstötungen“, „Ehrenmorde“ oder als „Familientragödien“ bezeichnet. Mit solchen Umschreibungen werden die Ursachen verdeckt; geschlechtsbezogene Machtverhältnisse und strukturelle Aspekte bleiben unsichtbar. Die Bundesregierung verweigert bisher eine klare Benennung und Definition von Femiziden und lehnt die Übernahme von Definitionen wie die der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ab: „Die Bundesregierung macht sich die von der WHO verwendete Auslegung daher nicht zu Eigen [sic!].“ (vgl. Bundestagsdrucksache 19/4059). Nach der WHO sind Femizide nach allgemeinem Verständnis vorsätzliche Morde an Frauen, weil sie Frauen sind (who.int/iris/bitstream/handle/10665/77421/WHO_RHR_12.38 _eng.pdf). Die Weigerung der Bundesregierung, Femizide anzuerkennen, führt in der Konsequenz dazu, dass keine gezielten Maßnahmen zur deren Bekämpfung ergriffen werden. Weder das jährliche Lagebild zu Gewalt in Partnerschaften noch die PKS erfassen Formen, Situationen und Risikomomente von Femiziden. Ohne Erhebung der Tatmotive und der genauen Umstände der Tötungsdelikte, bleibt die genaue Anzahl der Femizide unbekannt und es können keine gezielten Schutz- und Präventionsmaßnahmen ergriffen werden.

Auch das deutsche Rechtssystem verkennt die strukturelle Dimension, die hinter der Ermordung von Frauen steht. Tötungsdelikte an Frauen, insbesondere wenn das Motiv die Trennungsabsicht der Frau oder eine bereits vollzogene Trennung ist, werden häufig nur als Totschlag oder gar ausschließlich als Körperverletzung mit Todesfolge und nicht als Mord eingestuft. Das ist eine Auslegung, die auf eine Verharmlosung geschlechtsbezogener Gewalt hindeutet. Denn: Frauen müssen im Falle einer Trennung um ihr Leben fürchten, Männer nicht. Um Gewalt an Frauen zu beenden, muss sie klar benannt, untersucht und bekämpft werden. Femizide müssen genau definiert und durch eine unabhängige Beobachtungsstelle („Femicide Watch“) erfasst werden. Zu den Aufgaben der Beobachtungsstelle muss neben umfangreicher Datenerhebung auch die Forschung gehören, die die Bedeutung von Risikomomenten berücksichtigt, damit gezielte Maßnahmen zur Verhinderung von Femiziden entwickelt werden können.

Ein wirksamer Gewaltschutz ist die Stärkung der Autonomie von Frauen. Eine eigene Wohnung und ökonomische Unabhängigkeit sind wichtige Grundlagen, um ein Leben frei von Gewalt und Unterdrückung zu führen. Der Wohnungsmangel nicht nur in den Großstädten betrifft auch bereits von Gewalt betroffene Frauen; deshalb müssen neben ausreichend Plätzen in Frauenhäusern auch Wohnungen für Gewaltopfer bereitgehalten werden, solange es keinen bezahlbaren Wohnraum für alle gibt. Neben der individuellen Unterstützung von Frauen ist es wichtig, die gesamtgesellschaftlichen Strukturen zu verbessern hin zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft. II.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. Tötungsdelikte an Frauen und Mädchen, die aufgrund des hierarchischen Geschlechterverhältnisses begangen werden, als Femizide anzuerkennen,

2. eine unabhängige „Femicide Watch“-Beobachtungsstelle einzurichten, die jegliche Tötung, jeglichen tödlichen Unfall und vermeintlichen Suizid einer Frau in Deutschland erfasst, die Daten tagesaktuell veröffentlicht, jährlich einen Lagebericht zu „Femiziden in Deutschland“ erstellt und umfassend Forschung zu Femiziden, den Ursachen und der Bedeutung von Risikofaktoren betreibt,

3. das Lagebild „Partnerschaftsgewalt“ der Polizeilichen Kriminalstatistik zu erweitern und ein jährliches Lagebild zu sämtlichen Gewalttaten an Frauen, inkl. Partnerschaftsgewalt, zu erstellen,

4. das Hilfesystem bei Gewalt an Frauen entsprechend der Istanbul-Konvention barrierefrei auszubauen und so auszustatten, dass alle Betroffenen Beratung und Unterstützung erhalten und ihnen kurzfristig Schutzräume zur Verfügung stehen,

5. ein Bundesprogramm aufzusetzen, das den Frauen, die sich aus Gewaltsituationen befreien wollen, finanzielle Starthilfen zur Verfügung stellt und gezielte Unterstützung in der Arbeitsvermittlung anbietet,

6. mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dazu beizutragen, dass Staatsanwaltschaft und Polizei speziell bei Tötungsfällen an Frauen bei der polizeilichen Ermittlung stets zunächst prüft, ob ein Femizid vorliegt, bzw. zunächst durch eine Analyse der Motive und konkreten Bedingungen der Tat ausschließt, dass ein Femizid vorliegt,

7. sich bei den Ländern dafür einzusetzen, dass verpflichtende Fortbildungen für Polizei und Justiz zu den Themen geschlechtsspezifische Gewalt und IstanbulKonvention etabliert werden.

Berlin, den 3. November 2020

Amira Mohamed Ali, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion


Weitere Beiträge: