Morddrohungen gegen Kritikerinnen und Kritiker der türkischen Regierung in Deutschland

Kleine Anfrage (Drucksache 19/27614 )

der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Morddrohungen gegen Kritikerinnen und Kritiker der türkischen Regierung in Deutschland

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Politikerinnen und Politiker sowie Aktivistinnen und Aktivisten, die oder deren Familien ursprünglich aus der
Türkei stammen, sehen sich in Deutschland und Österreich immer wieder mit Morddrohungen von türkisch-nationalistischer Seite konfrontiert, wenn sie sich öffentlich gegen die Politik der Regierung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan oder die Politik des türkischen Staates positionieren oder
sich für kurdische oder armenische Belange einsetzen. Im Dezember 2020 machten eine Reihe von Betroffenen, darunter die Abgeordnete Gökay Akbulut und die Ko-Vorsitzende der Hamburger Linksfraktion Cansu Özdemir sowie die österreichische Grünen-Politikerin Berivan Aslan in einer gemeinsamen Erklärung eine Welle von Morddrohungen durch türkische Rechtsextremisten öffentlich. In der Erklärung heißt es: „Der Hass türkischer Faschist:innen richtet sich besonders gegen uns als aktive Kurd:innen, Armenier:innen, Aramäer:innen, Jüd:innen, gegen Linke sowieso. Bestärkt werden sie dabei
von ganz oben, also von der türkischen AKP-Regierung – dies ist ein offenes Geheimnis“ (https://anfdeutsch.com/aktuelles/neue-morddrohungen-turkischer-faschisten-23515). Die Drohungen über soziale Medien werden von Accounts mit Namen wie „Jitemciturkeyy“ verschickt. Jitem hieß der Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, dessen Todesschwadronen für zahlreiche Morde an kurdischen Oppositionellen in den 90er-Jahren verantwortlich waren. Auf Bildern, die den Drohungen beigefügt werden, sind häufig Patronen, Schusswaffen oder bewaffnete Personen zu sehen (https://anfdeutsch.com/aktuelles/neue-morddrohungen-turkischer-faschisten-23515; https://www.spiegel.de/politik/ausland/kur
denverfolgung-in-der-tuerkei-wir-mordeten-nachts-waehrend-der-ueberstunden-a-626351.html).

Im Januar 2021 erhielt nach Kenntnis der Fragestellerinnen und Fragesteller unter anderem ein an der Münchener Universität tätiger Medienwissenschaftler und eine Mitarbeiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung per Instagram Todesdrohungen durch einen Account mit Namen „kodaiyesil“. Dies nimmt nach Ansicht der Fragestellerinnen und Fragesteller Bezug auf den bekannten Auftragsmörder M. Y. des Jitem, der den Codenamen Yesil trug. Auch das Profilbild des Accounts zeigte das Bild von M. Y. Der Nachricht beigefügte Bilder zeigen eine Pistole und drei Patronen neben einer Kaffeetasse. Im Falle des Medienwissenschaftlers lautete der Text: „Guten Abend, der Tod wird dich finden – Jitem“. Bei der Stiftungsmitarbeiterin lautete der Text: „Der Humanismus ist ein an Tollwut erkrankter Wolf im Schafspelz. Wir werden nicht zulassen, dass er sich innerhalb des Landes, dessen Grenzen mit Blut verteidigt wurden, ausbreiten wird.“ Auf Fotos waren weitere Personen, darunter Oppositionsabgeordnete des türkischen Parlaments, abgebildet, die ebenfalls solche Drohungen bekommen hatten.

 

Antwort der Bundesregierung

1. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Drohungen einschließlich Todesdrohungen gegen in Deutschland lebende Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler, Politikerinnen und Politiker sowie Aktivistinnen und  Aktivisten aufgrund ihrer kritischen öffentlichen Positionierung gegenüber
der Politik der türkischen Regierung?
a) Wie viele und welche Personen aus welchen gesellschaftlichen Spektren (Politik, Wissenschaft, Stiftungen, NGO-Mitarbeiter, Aktive aus
sozialen Bewegungen etc.) haben in den letzten fünf Jahren nach Kenntnis der Bundesregierung entsprechende Drohungen erhalten?
b) In welcher Form erfolgten diese Drohungen (per Brief, telefonisch, über soziale Medien wie Facebook, Instagram etc.)?

Die Frage 1 nebst den Teilfragen 1a bis 1b werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.
Die in der Vorbemerkung von den Fragestellern erwähnten Bedrohungssachverhalte sind der Bundesregierung zum überwiegenden Teil bekannt. Diese Bedrohungen erfolgen meist im Kontext konkreter nationaler wie internationaler politischer Entwicklungen, können zuweilen aber auch ohne sofort erkennbaren Anlass vorkommen.
Dem Bundeskriminalamt (BKA) liegen aktuell Erkenntnisse zu 24 Fällen von Bedrohungen im Sinne der Fragestellung im Zeitraum 1. Januar 2016 bis
1. März 2021 vor. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese Zahlen aus den nachfolgend dargestellten Gründen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben:
– Das BKA beauskunftet nur die Straftaten, die von den Betroffenen bei der Polizei zur Anzeige gebracht werden. Das Anzeigeverhalten der Betroffenen variiert erfahrungsgemäß sehr stark.
– Die o. g. Zahl stützt sich fast ausschließlich auf polizeiliche Sachverhalte, die im Rahmen des „Kriminalpolizeilichen Meldedienstes Politisch Motivierte Kriminalität“ (KPMD PMK) an das BKA gemeldet wurden. Politisch motivierte Straftaten im Sinne der Fragestellung werden im Rahmen des
KPMD PMK allgemein registriert. Das bedeutet, dass sie in den Fallzahlen PMK insgesamt enthalten sind, jedoch im Hinblick auf die o. g. Personengruppen nicht trennscharf dargestellt werden können. Deshalb ist eine automatisierte Fallzahlendarstellung dieser Straftaten nicht möglich.
– Nach Anzeige einer Straftat bei örtlichen Polizeibehörden erfolgt die Meldung der Straftat an das BKA im Rahmen des KPMD PMK mit Zeitverzug.
Aktuelle Fälle sind dem BKA daher unter Umständen noch nicht bekannt, auch wenn sie der Polizei bereits gemeldet wurden.
– Gesetzliche Löschfristen haben teilweise bereits zur Löschung von Sachverhaltsdetails geführt, so dass solche Fälle nicht eindeutig unter die Fragestellungen subsumiert und damit nicht eingerechnet werden konnten.
Bei den in den o. g. 24 Fällen betroffenen Personen handelte es sich um Politiker und Politikerinnen der Partei DIE LINKE., Internetblogger, Journalisten/Buchautoren, Wissenschaftler, Sportler, Künstler, Abgeordnete/Anhänger der türkischen Partei HDP, einen Vorsitzenden der Kurdischen Gemeinde Deutschlands e.V. sowie Lokalpolitiker. Manche Personen waren mehrfach Betroffene von Bedrohungen. Grundsätzlich werden Andersdenkende auf allen bekannten Kommunikationskanälen, entweder unmittelbar persönlich, z. B. über Briefe, Telefonanrufe oder
elektronische Nachrichten, aber auch in Form von Veröffentlichungen im Internet und vergleichbaren Medien angegangen; wobei der überwiegende Teil der Drohungen in sozialen Medien ausgesprochen wurde.
c) Nach welchen Kriterien bei der Auswahl der Bedrohten erfolgen nach Kenntnis der Bundesregierung solche Bedrohungen?
d) Sind nach Kenntnis der Bundesregierung nur oder vor allem Personen von solchen Drohungen betroffen, die aufgrund ihrer Familien- und
Migrationsgeschichte oder ihres Namens von den Absendern der Drohungen als türkisch oder türkeistämmig angesehen werden können,
und wenn ja, welche mögliche Absicht von Seiten der Absenderinnen und Absender der Drohnachrichten erkennt die Bundesregierung dahinter?

Die Teilfragen 1c und 1d werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Migrationstypische Merkmale wie Herkunft oder Namen scheinen bei den Bedrohungen nicht ausschließlich die Haupt-Auswahlkriterien zu sein. Anlassbezogene Bedrohungen richten sich vielmehr gegen Personen, welche von den Tätern mit dem jeweiligen konkreten Ereignis in einen Zusammenhang als Urheber oder Beteiligte gebracht werden.
Gleichwohl ist auf Grundlage der dem BKA bekannt gewordenen Fälle festzustellen, dass die überwiegende Mehrheit der Betroffenen im Sinne der Fragestellung einen türkischen Migrationshintergrund hat. Es sind jedoch auch Fälle bekannt, in denen deutschstämmige Politiker, Künstler und Journalisten von entsprechenden Drohungen betroffen waren.  Ferner wird auf die Antwort zu den Fragen 1e bis 1h verwiesen.

e) Welche Absicht steckt nach Kenntnis der Bundesregierung hinter den Drohungen?
f) Welche Kenntnisse über die Absenderinnen und Absender solcher Drohungen hat die Bundesregierung, und inwieweit leben diese in
Deutschland?
g) Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung Hinweise, wonach der türkische Geheimdienst MIT hinter solchen Drohnachrichten steht bzw.
die Absenderinnen und Absender Verbindungen zum MIT haben?
h) In wie vielen und welchen Fällen konnten die Absenderinnen und Absender solcher Drohnachrichten nach Kenntnis der Bundesregierung
ermittelt werden, und welche Angaben kann die Bundesregierung zu deren Hintergründen machen?

Die Teilfragen 1e bis 1h werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam
beantwortet.
Generell sind Einschüchterungsabsichten, Diffamierungen oder zwischenmenschliche Herabsetzungen als tatleitendes Motiv anzunehmen. Hinzutreten
können aber auch andere Aspekte, die im persönlichen Bereich oder sozialen Umfeld der einzelnen Täter zu verorten sind.
Eine statistische Zuordnung, woher die Absender solcher Drohungen stammen, ist angesichts der technischen Verschleierungsmöglichkeiten von Kommunikationskanälen nicht möglich. Es gibt Bedrohungen oder Täter, die sich ins Ausland zurückverfolgen lassen, genauso wie Fälle, bei denen Hinweise auf eine Urheberschaft in Deutschland vorliegen. Auch ist in vielen Fällen die Ermittlung eines/einer Tatverdächtigen nicht gelungen, so dass auch aus diesem Grund keine belastbaren Aussagen über die Herkunft des/der Tatverdächtigen getroffen werden kann. In den Fällen, in denen ein Tatverdächtiger identifiziert werden konnte, handelte es sich überwiegend um in Deutschland lebende männliche Personen mit türkischem Migrationshintergrund. Anhand der getätigten Äußerungen der Tatverdächtigen lässt sich ableiten, dass es sich unter anderem oft um türkische Rechtsextremisten handelt.

2. Inwieweit werden nach Kenntnis der Bundesregierung Personen, die entsprechende Drohungen an Personen in Deutschland verschicken, von Seiten der türkischen Regierung, Mitgliedern der Regierungsparteien, Behörden einschließlich des Geheimdienstes aufgefordert oder ermutigt, entsprechende Nachrichten an Kritikerinnen und Kritiker der türkischen Politik im Ausland zu schicken?

Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse im Sinne der Fragestellung vor.

3. Sind der Bundesregierung Aufrufe von Politikerinnen und Politikern der türkischen Regierungspartei AKP, ihrer Allianzpartnerin MHP sowie den
ebenfalls dem Regierungslager zugerechneten Parteien BBP und Vatan Partisi oder von diesen Parteien oder der türkischen Regierung nahestehenden Medien und Personen bekannt, Kritikerinnen und Kritiker der türkischen Regierungspolitik im Ausland zu bedrohen, und wenn ja, welche, und inwieweit sieht die Bundesregierung einen Zusammenhang dieser Aufforderungen mit den tatsächlich erfolgten Drohungen?

Der Bundesregierung liegen keine konkreten Erkenntnisse im Sinne der Fragestellung vor.

4. Inwieweit und in welchen Fällen und aufgrund welcher Erkenntnisse und Einschätzungen sieht die Bundesregierung eine mögliche tatsächliche Gefährdung für in Deutschland lebende Personen, die aufgrund ihrer öffentlich vertretenen kritischen Haltung gegenüber der türkischen Staats- und
Regierungspolitik Drohungen erhalten haben?
Eine konkrete Gefährdung für in Deutschland lebende Personen aufgrund ihrer öffentlich vertretenen kritischen Haltung gegenüber der türkischen Staats- und Regierungspolitik wird aktuell nicht gesehen.

5. Was konkret unternimmt die Bundesregierung zum Schutze dieser Personen angesichts solcher Drohungen?
Für Maßnahmen zum Schutz von mutmaßlich gefährdeten Personen sind originär die Behörden der Länder zuständig, in denen die Personen ihren Wohnsitz haben, wobei zwischen den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder anlassbezogen ein enger und unmittelbarer Informations- und Erkenntnisaustausch stattfindet.

Für die Mitglieder der Verfassungsorgane, für die nach dem Bundeskriminalamtgesetz (BKAG) eine Zuständigkeit des BKA besteht, werden regelmäßig
oder anlassbezogen Gefährdungsbewertungen durchgeführt. Infolgedessen kann es auch zu Einstufungen in eine Gefährdungsstufe und lageangepassten
Schutzmaßnahmen durch das BKA kommen. Bei konkreten Einzelsachverhalten steht das BKA den betroffenen Personen als Ansprechpartner zur Verfügung, bewertet die Sachverhalte in Hinblick auf mögliche Auswirkungen auf die individuelle Gefährdungssituation und trifft Maßnahmen zur Identifizierung potentiell gefährlicher Personen. Bei Hinweisen auf eine erhöhte Gefährdung werden in Abstimmung mit den Betroffenen
die erforderlichen Schutzmaßnahmen getroffen oder veranlasst. Einzelfallbezogen können die Betroffenen dem BKA Termine oder Teilnahmen an Veranstaltungen im Vorfeld mitteilen. In diesem Fall prüft das BKA gemeinsam mit den Polizeien der Länder die Erforderlichkeit von temporären Schutzmaßnahmen.

6. Inwieweit, und wie oft waren Todesdrohungen gegen in Deutschland lebende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Politikerinnen und Politiker sowie Aktivistinnen und Aktivisten aufgrund ihrer kritischen öffentlichen Positionierung gegenüber der Politik der türkischen Regierung Thema im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum?

In den Sitzungen des Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums im Phänomenbereich Politisch Motivierte Kriminalität – ausländische Ideologie (GETZ-A) hat es vom 1. März 2019 bis zum 3. März 2021 keine Befassung mit Sachverhalten gegeben, die unter die Fragestellung 6 zu subsumieren wären.

7. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über ähnliche Drohungen gegenüber Kritikerinnen und Kritikern der türkischen Regierungspolitik in
anderen europäischen Staaten, und inwiefern steht sie diesbezüglich im Austausch mit den jeweiligen Regierungen, bzw. inwiefern tauschen sich
die zuständigen Sicherheitsbehörden diesbezüglich aus, und welche Erkenntnisse sind hieraus bislang erwachsen?
Presseangaben zufolge soll es in Österreich zu Anschlagsplänen auf eine kurdisch-stämmige Politikerin gekommen sein.

Der Bundesregierung liegen keine eigenen Erkenntnisse zu diesem Vorgang vor.
Das BKA erhält in Einzelfällen Informationen über ähnliche Bedrohungen in anderen europäischen Staaten. Im Rahmen polizeilicher Rechtshilfe findet bei Vorliegen von Bezügen in europäische Staaten ein Erkenntnisaustausch statt.


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