Auslastungen der Kliniken beim Maßregelvollzug
der Abgeordneten Gökay Akbulut, Friedrich Straetmanns, Niema Movassat, Dr. André Hahn, Sylvia Gabelmann, Ulla Jelpke, Żaklin Nastić, Petra Pau, Sören Pellmann, Martina Renner, Kersten Steinke, Dr. Kirsten Tackmann, Harald Weinberg und der Fraktion DIE LINKE.
Auslastung der Kliniken beim Maßregelvollzug
Der Deutsche Bundestag hat am 28. April 2016 das von der Bundesregierung vorgelegte „Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 des Strafgesetzbuches (StGB) und zur Änderung anderer Vorschriften“ (Bundestagsdrucksache 18/7244) beschlossen. Die Novellierung wurde notwendig, weil in den Jahren zuvor die Zahl von Personen, die gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wurden, kontinuierlich stieg. Belege für einen parallelen Anstieg der Gefährlichkeit der Untergebrachten gab es laut Aussagen des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz nicht (https://www.bmjv.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/04292016_Novellierung_des_Rechts_der_Unterbringung.html). Seit der Novellierung ist es bundesweit zu keinem signifikanten Rückgang der Belegungszahlen im Maßregelvollzug (MRV) gekommen. Es ist nach Auffassung der Fragesteller eher Gegenteiliges zu beobachten: Die hohen Einweisungen nach § 64 StGB werden im gegenwärtigen Diskurs vor allem für die Überbelegungssituation verantwortlich gemacht. Psychiatrischer MRV heißt für viele Menschen eine lange Dauer der Freiheitsentziehung. Die Therapeutinnen und Therapeuten sind für diese schwierige Aufgabe nach Auffassung der Fragesteller häufig nicht ausreichend qualifiziert,
von Expertinnen und Experten werden für die Behandlungsstandards deshalb mehr Ausführungen zu Qualitätssicherung gefordert (vgl. Anmerkungen zu den DGPPN-Standards für die Behandlung im Maßregelvollzug, in: Standards und offene Probleme des psychiatrischen Maßregelvollzugs, S. 130, 2018). Expertinnen und Experten beobachten ebenfalls, dass der Maßregelvollzug nicht mehr eine auf die Person zentrierte psychiatrische Behandlung ist, sondern sich in ein auf allgemeine Risikofaktoren bezogenes Risikomanagement entwickelt (vgl. Anmerkungen zu den DGPPN-Standards für die Behandlung im Maßregelvollzug, in: Standards und offene Probleme des psychiatrischen Maßregelvollzugs, S. 132, 2018).
Viele Kliniken sind nach Angaben von Medien restlos überfüllt (vgl.: https://www.zdf.de/nachrichten/video/panorama-massregelvollzug-kliniken-ueberfuellt100.html). Bundesländer wie beispielsweise Niedersachsen melden, dass es ihnen an Plätzen in den Kliniken für Maßregelvollzug fehlt (vgl.: https://www.braunschweiger-zeitung.de/niedersachsen/article227936361/Massregelvollzug-in-Niedersachsen-ist-ueberfuellt.html).
Auch Gewalt unter Personen, die im Maßregelvollzug untergebracht sind, spielt eine große Rolle für die sichere Durchführung des MRV, sowohl für die Untergebrachten als auch für das Personal. Erst im Juni 2020 ist ein Mann im Maßregelvollzug nach einer Schlägerei verstorben (vgl. https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2020/06/berlin-reinickendorf-klinik-massregelvollzug-toter-pruegelei.html, zuletzt aufgerufen am 2. Dezember 2020), und Angriffe auf Therapeutinnen und Therapeuten und Ärzte finden ebenfalls statt (vgl. https://www.berliner-kurier.de/kriminalitaet/reinickendorf-attacke-knapp-ueberlebt-knastaerztinniedergestochen-li.77838, zuletzt aufgerufen am
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie hat sich die Zahl der Unterbringungsanordnungen gemäß §§ 63, 64 StGB und § 126a der Strafprozessordnung (StPO) seit 1995 entwickelt
(bitte nach Jahr und Paragraf aufschlüsseln)?
2. Wie hat sich die Gesamtzahl der forensischen Patientinnen und Patienten, die nach §§ 63, 64 und § 126a StPO untergebracht sind, im ganzen Bundesgebiet (bitte mit Zahlen aus allen 16 Bundesländern) in den Jahren 1995, 2000, 2005, 2010, 2015, 2019 (oder die aktuellsten vorliegenden
Zahlen) entwickelt (bitte nach Jahr und Paragraf aufschlüsseln)?
3. Wie lange verweilten Patientinnen und Patienten, die gemäß § 63 StGB untergebracht waren, durchschnittlich im Jahr 1995, 2000, 2005, 2010,
2015, 2019 in den Einrichtungen des MRV, bzw. wie viele Personen verweilten länger als zehn Jahre in der Klinik?
4. Auf welcher Datengrundlage soll die Reform des § 63 StGB evaluiert werden? Wurden hierzu bereits Daten seitens der Bundesregierung erhoben und
ausgewertet?
5. Wie hat sich die Zahl der Untergebrachten zu der Zahl der Planbetten im Maßregelvollzug in den letzten zehn Jahren entwickelt (bitte nach Jahr und
Paragraf aufschlüsseln)?
6. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über „Notstandsmeldungen“, besonders vor dem Hintergrund der medialen Berichterstattung bezüglich
der Überfüllung von Kliniken?
a) Auf welcher Grundlage wird der Umgang mit der Überfüllung gestaltet? Welche konkreten Regeln gelten?
b) Wie wird die Einhaltung der Kapazitäten bei Planbetten kontrolliert?
7. Wie viele Menschen sind nicht untergebracht, obwohl sie untergebracht werden müssten?
a) Wie viele Menschen davon sind nach § 63, wie viele nach § 64 StGB verurteilt, und wie lange warten sie auf einen Platz?
b) Welche Neubauten von Maßregelvollzugskliniken gab es in den letzten zehn Jahren in Deutschland (bitte die Baujahre, den Ort und die Anzahl
der neugeschaffenen Plätze angeben)?
8. Wenn „Sicherung“ nicht ausreichend gewährleistet werden kann und nach Auffassung der Fragestellerinnen und Fragesteller auch bei der „Besserung“ erhebliche Probleme vorliegen: Inwieweit funktioniert das System MRV aus Sicht der Bundesregierung noch, und welche Maßnahmen will
die Bundesregierung ergreifen um die Sicherung und Besserung angemessen gewährleisten zu können? 9. Welche Neubauten mit je wie vielen Plätzen waren in den letzten zehn Jahren geplant, konnten aber nicht umgesetzt werden? Warum nicht?
a) Wie groß schätzt die Bundesregierung aktuell den Bedarf an Klinikplätzen?
b) Welches Budgetvolumen wird in den Ausbau des MRV bundesweit investiert?
10. Wie haben sich die Budgets der Länder nach Kenntnis der Bundesregierung für den Maßregelvollzug in den letzten zehn Jahren entwickelt, wie
viel bräuchte es, um überhaupt die Planbetten bereitzustellen?
11. Was weiß die Bundesregierung über Personalnotstand seitens der Kliniken bzw. der Vertretungen des Personals?
12. Die Kliniken des Maßregelvollzugs unterliegen nicht den vom Gemeinsamen Bundesausschuss ausgearbeiteten Personalausstattung Psychiatrie und
Psychosomatik-Richtlinie (PPP-RL); warum wurde der Maßregelvollzug, trotz der aus Sicht der Fragestellerinnen und Fragesteller und Expertinnen
und Experten schlechten Personalausstattung, nicht in das Richtlinienpapier integriert?
13. Beabsichtigt die Bundesregierung, einheitliche und verpflichtende Behandlungsstandards im Maßregelvollzug einzuführen? Welche Instrumente beabsichtigt sie hierfür zu nutzen?
14. Ist es zutreffend, dass psychiatrischer Maßregelvollzug bei langen Freiheitsstrafen häufiger zur Anwendung kommt als bei kurzen Freiheitsstrafen?
Wie lang waren im Schnitt die verhängten Freiheitsstrafen der Untergebrachten (bitte nach Paragraf und Jahr aufschlüsseln)?
15. Wenn Sicherung nicht mehr gewährleistet werden kann und offensichtlich auch bei der Besserung erhebliche Probleme vorliegen: Funktioniert das
System MRV aus Sicht der Bundesregierung? Wenn ja, warum? Wenn nein, welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen?
Berlin, den 14. Dezember 2020
Amira Mohamed Ali, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion
Antwort aufrufen